Skip to main content

Ganz andere Wirklichkeiten?

Christian Metzenthin, Thomas Schlag

Biographisches

Christian Metzenthin, Dr. theol., ist Mittelschullehrer für Religion und Co-Leiter des Mittelschulfoyers an der Kantonsschule Zürich Nord. Er leitet die HSGYM Kerngruppe Religion und engagiert sich im Mittelschullehrpersonenverband Zürich. Als Mitglied der Kommission Neue Religiöse Bewegungen der Evangelischen Kirche Schweiz befasst er sich mit der religiösen Schweizer Gegenwart.

Thomas Schlag, Prof. Dr. ist Professor für Praktische Theologie und Leiter des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) sowie Direktor des Universitären Forschungsschwerpunkts «Digital Religion(s)» an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.

Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen, Glaubenshaltungen und Weltanschauungen ist an den Schulen längst Alltag. Doch was, wenn diese in Konkurrenz zueinander treten? Wenn nicht nur Meinung und Gegenmeinung, sondern unterschiedliche Wirklichkeitssichten hart aufeinanderprallen? Oder wenn bestimmte Überzeugungen dem, was in der Schule gelernt wird, widersprechen? Verschwörungstheorien und Pseudowissenschaft, aber auch Stereotypen, Klischees und Vorurteilen muss die Schule entgegentreten. Dies ist nicht nur eine epistemische, sondern auch eine pädagogische und demokratische Aufgabe. Immer gilt es den Menschen und seine Würde als den Ausgangs- und Zielpunkt von Schule als Lern- und Lebensort zu sehen.

Mit dem Nebeneinander verschiedener Kulturen, Religionen, Glaubenshaltungen und Weltanschauungen gibt es auch ein Nebeneinander verschiedener Wirklichkeitssichten, Wahrheits- und Geltungsansprüche. In Alltag und Schule ist diese Pluralität und Diversität meist problemlos, in bestimmten Situationen oder in bestimmten Wissensgebieten, aber auch in Auseinandersetzung mit Positionen aus Geschichte, Literatur, Politik und Religion können die unterschiedlichen Wahrheits- und Geltungsansprüche – manch­mal auch sehr überraschend – plötzlich virulent werden. Und im worst case wird dann der Andere mit seiner divergierenden Sicht auf die Dinge zum fremden Anderen.

Die Situation rund um Corona hat das Aufkommen und die Verbreitung von alternativen Wirklichkeitsdeutungen und insbesondere Verschwörungstheorien verstärkt. Gerade in Zeiten von Lock-down und verordnetem Home-Office haben digitale Echokammern und Filterblasen seltsame Blüten getrieben. Dort wird die eigene Weltanschauung mit einem fast schon «religiösen» Eifer verteidigt. Aufgefallen sind etwa Anhänger von Verschwörungstheorien, die sich selbst als «Aufgewachte» verstehen, während sie den grossen Teil der Menschen als «blind» ansehen. Sie vertreten ihre Ansichten mit einem unerschütterlichen Glauben und auf missionarische Weise, so dass sich hierfür der Begriff eines «Verschwörungsglaubens» nahelegt. Besonders heftig kann sich dies zeigen, wenn etwa die Pandemie selbst sogar als «Strafe Gottes» angesehen wird, was dann die rationale Auseinandersetzung umso schwieriger, aber auch umso notwendiger macht.

Viele Verschwörungsgläubige sind sehr aktiv und verwenden viel Zeit mit und für ihre Weltanschauung. Verschwörungsglaube bietet ihnen einen neuen Lebens-Sinn. Und ähnlich wie in manchen Facetten des religiösen Glaubens schliessen sich diejenigen, die daran glauben, online wie offline zu Gemeinschaften von Gleichgesinnten zusammen. Dies dürfte erklären, warum die Diskussion mit Verschwörungsgläubigen sehr ähnlich ist wie die Diskussion mit religiösen Fundamentalisten. Mit rationalen Argumenten allein kommt man in beiden Fällen oft nicht sehr weit. Denn für diese «Spielart» von gläubigen Menschen geht es bei der Diskussion über ihre Weltanschauung immer um mehr als bloss um eine «Theorie».

Gerade deshalb darf sich das Gymnasium der theoretischen Diskussion um solche unterschiedlichen Wirklichkeitsdeutungen nicht verschliessen. Sich ausschliessende Wahrheitsansprüche müssen vielmehr offen thematisiert werden. Gymnasiallehrpersonen wissen sich als Akademiker*innen der wissen­schaftlichen Forschung verpflichtet. Dabei gilt es nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch dessen Genese, Geltung und Grenzen zu reflektieren. Gegen Fakes helfen nicht einfach Fakten, vielmehr ist mit den Lernenden zu klären, wie unser Wissen zu Stande kommt, wie sicher unser Wissen ist und auch welche Grenzen unser Wissen hat. Dass sich dies gerade in den gegenwärtigen Zeiten mit einer medienkritischen Bildung im Blick auf digitale «Informationen» verbinden muss, ist offenkundig. Neben dem Erwerb von Wissen ist auch das logische Denken ein wichtiges Übungsfeld. Richtiges Argumentieren, korrektes Schliessen sowie die Kritik an Argumenten werden unter dem Begriff «Kritisches Denken» als eine Kompetenz beschrieben, die gerade für ein späteres universitäres Studium von zentraler Bedeutung ist. Unterschiedliche Welt- und Wirklichkeitsverständnisse mit dem Instrument des Kritischen Denkens zu begegnen ist für die Jugendlichen am Gymnasium ein spannendes und lehrreiches und existenziell bedeutsames Erfahrungs- und Übungsfeld.

Kritisches Denken hilft beispielsweise Verschwörungstheorien zu durchschauen. Doch Verschwörungs­gläubige sind wie fundamentalistisch religiöse Menschen mit rationalen Argumenten allein oft nicht erreichbar. Für stark gläubige Menschen ist das Geglaubte nicht nur eine Frage eines rationalen Diskurses, oft hängt daran noch viel mehr. Allerdings gilt sowohl für politisch wie religiös «einseitig» denkende und urteilende Menschen, dass sich ihre jeweilige Weltanschauung dem rationalen Diskurs stellen muss. Das gilt selbst und vielleicht gerade dann, wenn mit dem eigenen Glauben intensives Engagement oder prägende Erlebnisse in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten verbunden sind, wenn ein solcher Glaube somit nicht einfach eine optional mögliche Weltanschauung, sondern Teil des eigenen Selbst­verständnisses ist. Gerade dann ist pädagogische Arbeit notwendig. So ist dann beispielweise nachzufragen, warum bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. Theorien abgelehnt würden. Oder was den Betreffenden an ihrem eigenen Glauben so wichtig ist. Und es ist zwingend dagegen zu halten, wenn Menschen mit anderen Überzeugungen und Gefühlen ausgeschlossen, abgewertet oder gar gebrandmarkt werden.

Widerspruch verdienen falsche Vorstellungen oder problematische menschenfeindliche Welt­anschauungen, nicht aber die sich dahinter zeigende Verunsicherungen angesichts einer komplexen Welt oder das sich darin artikulierende Bedürfnis nach einer solidarischen Gemeinschaft oder nach tragfähigen Beziehungen. Nicht nur Wissen und Logik, sondern auch Wünsche, Zukunftsvisionen oder auch die Frage nach dem Guten und Schönen usw. sollen im gymnasialen Unterricht ihren Platz haben.

Die Lehrperson muss also beides tun. Sie muss falschen Vorstellungen widersprechen und erklären, weshalb sie Dinge anders sieht. Und sie muss gleichzeitig Wertschätzung und Verständnis zeigen für die Fragen und Anliegen des Gegenübers. Damit kommt der pädagogischen Aufgabe selbst eine inter­kulturelle, interreligiöse und demokratische Verantwortung zu. Denn wenn die Schule kein Lern- und Lebensort für das friedliche Miteinander im aufgeklärten und aufklärerischen Streit unterschiedlicher Wirklichkeitsdeutungen wäre, worin sollte dann ihre tiefere gesellschaftliche Bedeutsamkeit liegen?

Literatur

  • Christian Metzenthin (2019) [Hg.], Phänomen Verschwörungstheorien. Psychologische, soziologische und theologische Perspektiven, Zürich: TVZ.
  • Thomas Schlag und Jasmine Suhner (2018), Interreligiöses Lernen im öffentlichen Bildungskontext Schule. Eine theologisch-religionspädagogische Annäherung, Zürich: TVZ.