Skip to main content

Blinde Elite: Warum sich die meisten Akademiker nicht für Chancengerechtigkeit interessieren

Nils Pfändler

Biographisches

Nils Pfändler ist Redaktor bei der Neuen Zürcher Zeitung und schreibt im Ressort Zürich häufig über Bildungsthemen. Er hat Geschichte und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaften an der Universität Zürich studiert und arbeitete vor seiner Zeit bei der NZZ für den Tages-Anzeiger und das SRF.

Es steht schlecht um die Chancengerechtigkeit in der Schweiz. Das Land rühmt sich – zurecht – für sein duales Bildungssystem. Doch dieses ist längst nicht so durchlässig, wie es gerne dargestellt wird. Der Schweizer Wissenschaftsrat sprach deshalb 2018 von einem «unhaltbaren Zustand»; ein Zustand, der allerdings von verschiedenen Kräften zuverlässig aufrechterhalten wird.

Dabei ist das Recht auf gleiche Chancen in der Schweizer Bundesverfassung festgehalten. Unter Artikel 2 heisst es, dass es ein Zweck der Verfassung sei, für eine «möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern» zu sorgen. Dieses Versprechen wird nicht eingelöst.

Laut Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm sind das Gymnasium und die Universität weitgehend das Privileg derjenigen Schichten geblieben, die schon gebildet sind. Die Psychologin und Intelligenzforscherin Elsbeth Stern schätzt, dass mindestens 30 Prozent der Mittelschüler nicht ans Gymnasium gehören. Geht es nach dem Bildungsexperten Jürg Schoch, bleiben jährlich rund 20000 begabte, motivierte, aber sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche chancenlos auf eine höhere Bildung.

Das ist nicht nur ungerecht für die betroffenen Personen, es geht volkswirtschaftlich auch unheimlich viel Potenzial verloren.

Das muss sich dringend ändern.

Wo genau das Problem liegt und wie man es lösen könnte, ist eine Streitfrage, die selbst von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bisher nicht abschliessend beantwortet werden konnte. Lösungsansätze wie die Frühförderung für fremdsprachige Kinder, eine spätere Selektion, ein Verbot von kommerziellen Gymi-Vorbereitungskursen, Mentoringprogramme oder Projekte wie ChagAll, ChaBâle oder Allianz Chance + können punktuell zwar zu Verbesserungen beitragen. Flächendeckend entfalten sie aber keine Wirkung.

Ein wichtiger Aspekt kommt in der Debatte bisher zu kurz: die persönliche Betroffenheit. Um den Stellenwert der eigenen Erfahrungen für diese Diskussion zu unterstreichen, möchte ich eine Anekdote erzählen.

Im Herbst 2021 durfte ich an der HSGYM-Tagung in der Kantonsschule Wetzikon einen Workshop zum Thema Chancengerechtigkeit leiten. Als Einstieg habe ich eine Umfrage unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt: Ich wollte von ihnen wissen, wer im Raum mindestens einen Elternteil mit einem Hochschulabschluss hat.

Nun muss man wissen, dass die Lehrerinnen, Schulleiter und Rektorinnen, die den Workshop gewählt hatten, natürlich alles Akademiker waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Eltern ebenfalls einen höheren Schulabschluss gemacht haben, liegt deshalb sehr hoch. Nicht einmal ein Fünftel der Kinder von Eltern, die lediglich die obligatorische Schulzeit absolviert haben, erreichen später einmal einen Tertiärabschluss. Hat mindestens ein Elternteil eine Hochschule besucht, werden es ihre Kinder aber in 64 Prozent der Fälle gleichtun. Das zeigen Daten des Bundesamtes für Statistik.

Zum Erstaunen aller Anwesenden hob bei meiner Umfrage allerdings niemand die Hand. Entgegen der Statistik hatte von den rund ein Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmern also niemand einen Elternteil mit Hochschulabschluss.

Das warf natürlich Fragen auf. Eines war der Gruppe schnell klar: Zufall konnte das nicht sein. Bei der Tagung standen 18 verschiedene Workshops zur Auswahl. Dass sich ausgerechnet die statistischen Aussenseiter ohne Akademikereltern mit der Chancengerechtigkeit beschäftigen wollten, hatte einen anderen Grund. Es lag an ihrer eigenen Biografie.

Die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben, schärften den Blick für das Thema. Das ist ein zentraler Punkt der ganzen Problematik. Denn im Umkehrschluss bedeutet es, dass Akademiker aus einem Akademikerhaushalt in Sachen Chancengerechtigkeit tendenziell einen blinden Fleck haben. Schlicht, weil sie selber nie benachteiligt worden sind.

Das hat weitreichende Folgen. Wie die Statistik oben zeigt, sind die Akademikerkinder unter den Hochschulabsolventen nämlich in der grossen Mehrheit. Das wiederum bedeutet, dass sie später eher in Entscheidungspositionen sitzen werden, sei es nun in der Politik, der Verwaltung oder in der Privatwirtschaft. Sie tragen mehr Verantwortung und treffen wichtige Entscheide – auch über Menschen aus sozialen Schichten und mit Ausgangsmöglichkeiten, die ihnen selber völlig fremd sind.

Was so entsteht, könnte man als strukturelle Ungerechtigkeit bezeichnen. Sie funktioniert wie ein Perpetuum mobile: Sie treibt sich selber voran, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie nährt sich vom Unwissen der Privilegierten in den Machtpositionen.

Das dürfte ein wichtiger Grund sein, warum in der Politik bisher so wenig für die Chancengerechtigkeit getan wurde. Die meisten Vorstösse und Projekte gehen von Einzelpersonen aus. Dabei sollten Parteien von links bis rechts ein Interesse daran haben, etwas an diesem unbefriedigenden Zustand zu ändern. Die soziale Gerechtigkeit ist bei linken Parteien ohnehin Teil des Programms. Aber auch auf bürgerlicher Seite sollte das Anliegen Unterstützung finden. Die Freiheit des Einzelnen, sich entsprechend seiner Möglichkeiten zu entfalten, ist ein Grundsatz des Liberalismus. Und selbst die Schweizer Volkspartei könnte dem Thema eigentlich etwas abgewinnen. Immerhin steht das Anliegen in der Verfassung.

Es wäre an der Zeit, dass das Thema Chancengerechtigkeit endlich mehr Aufmerksamkeit erhält. Wenn möglichst vielen Menschen möglichst viele Chancen haben, nützt das am Ende allen.