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Abschluss-, aber nicht anschlussfähig?

Das Gymnasium auf dem Weg vom Durchlauf­erhitzer zur Lebensschule

Dieser Text entstand im Nachgang zum gleichnamigen Barcamp im Rahmen der HSGYM-Herbsttagung 2021 und wirft einen bewusst provokativen Blick auf das Lehren und Lernen am Gymnasium mit einem möglichen Lösungsansatz.

Stefan Zumbrunn-Würsch

Biographisches

Stefan Zumbrunn: Geboren und aufgewachsen im Berner Oberland, habe ich dort eine Lehre als Mechaniker absolviert. Nach dem Studium als Maschineningenieur HTL folgte ein Physikstudium in Neuenburg und Bern. Seit 2005 bin ich Rektor der Kantonsschule Solothurn, an der ich seit 1992 die Fächer Mathematik und Physik unterrichte. Nach zwölf Jahren im Vorstand wurde ich im Mai 2021 zum Präsidenten der KSGR gewählt.

Die Gymnasien in unserem Lande sind zurecht stolz auf ihre langjährige Tradition. Dies scheint mir umso wichtiger, als im Bildungswesen seit geraumer Zeit die Tendenz feststellbar ist, alles einander anzugleichen: Die Maturaquoten in den Kantonen, die Berufsbildung dem Gymnasium, die Fachhochschule der Universität und umgekehrt, so dass ich mir gelegentlich vorkomme wie in der folgenden Tierparabel.

Es gab einmal eine Zeit, da hatten die Tiere eine Schule. Der Unterricht bestand aus Rennen, Klettern, Fliegen und Schwimmen. Um die Organisation zu vereinfachen, wurden alle Tiere in allen Fächern unterrichtet. Die Ente war gut im Schwimmen, besser sogar als der Lehrer. Im Fliegen war sie durchschnittlich, aber im Rennen war sie ein besonders hoffnungsloser FallDa sie in diesem Fach so schlechte Noten hatte, musste sie nachsitzen und den Schwimmunterricht ausfallen lassen, um das Rennen zu üben. Das tat sie so lange, bis sie auch im Schwimmen nur noch mittelmässig war. Mittelmässige Leistungen aber fanden die Schulvorsteher ganz in Ordnung, deswegen machte sich niemand Sorgen - ausser der Ente selber. 

Das Kaninchen war anfänglich im Laufen an der Spitze der Klasse, aber es bekam wegen des vielen Nachhilfeunterrichts im Schwimmen einen Nervenzusammenbruch und musste nach zahlreichen Terminen in der schulinternen Beratungsstelle von der Schule abgehen. 

Der Adler wurde als unkontrollierbarer Problemschüler angesehen. Er wurde in der Kletterklasse gemassregelt, weil er stur darauf bestand, seine eigene Methode anzuwenden. Obwohl er damit der Schnellste war und stets als allererster den Wipfel eines Baumes erreichte, setzte er sich über die allgemein gültigen Regeln hinweg. Damit waren die Lehrpersonen nicht einverstanden, was dieSchulleitung dazu bewog, die korrekten Vorgehensschritte in einem internen Regulativ festzuhalten. 

Und die mit Sinn fürs Praktische begabten Präriehunde gaben ihre Jungen zum Dachs in die Berufs/ehre, als die Schulbehörde es ablehnte, Buddeln in den Unterricht aufzunehmen. (...)

Die Parabel spielt das mit allen Tieren durch, es wird immer tragikomischer. Ein hübsches Gleichnis gegen die gerade in letzter Zeit wieder stärker auftauchende Gleichmacherei der Schüler:innen einerseits und der nach wie vor herrschenden Defizitorientierung in der Schule andererseits. Die existierenden Promotionsbedingungen sind in der Regel darauf ausgerichtet, unsere «Schwächen» zu trainieren, um dort besser zu werden, wo wir nicht einem bestimmten Mindeststandard entsprechen. Gerade in Bewerbungsgesprächen fällt mir dabei auf, wie schwer es unseren Absolvent:innen im Vergleich mit z.B. angelsächsischen Gleichaltrigen fällt, klar und selbstbewusst ihre Stärken zu benennen. Leicht gelingt es ihnen meisten jedoch, auf Anhieb jene Bereiche zu benennen, in denen sie unbedingt noch besser werden müssen.

Genau wie die Ente in der einführenden Tierparabel mache auch ich mir Sorgen und Gedanken zu unserem Bildungssystem. Viel Leid, Frustration und schlechte Leistungen resultieren (nicht nur im gymnasialen Schulalltag) daraus, dass Schüler:innen nicht in ihren Stärken gesehen und gefördert werden und sie sich darum bemühen, sich dem System anzupassen, anstatt dass das System die bei ihnen vorhandenen Qualitäten nutzt. Seit ungefähr zehn Jahren versuche ich deshalb zusammen mit Kolleg:innen, unsere Schule dahin zu entwickeln, dass sich die Ente wieder wohlfühlt und der Adler seine Stärken zeigen kann.

Bildung ist gerade in der aktuellen Zeit mit den zahlreichen herausfordernden Problemen der Schlüssel zu einer leistungsfähigen, dennoch humanen und sozial gerechten, wirtschaftlich erfolgreichen und kulturell vielfältigen Zukunftsgesellschaft. Deshalb hängt es wesentlich von der Qualität der Schulen und hier ganz speziell auch von unserem Gymnasium ab, ob wir den Herausforderungen gewachsen sein werden, mit denen uns die Welt von morgen konfrontiert.

Die Schule liefert also Stoff zum Nachdenken und Diskutieren - und das wird auch häufig gemacht. Allerdings geht es bei den daraus resultierenden Diskussionen meist um Formales. Um Strukturen wird diskutiert, über Klassen und Klassengrössen, über Stundenzahlen oder über Bestehensnormen bei den Abschlüssen. Persönlich bin ich der Meinung, dass es um ganz andere Fragen ginge. Wenn ich in diesem Zusammenhang an meine Erfahrungen in der Vergangenheit zurückdenke, so komme ich zum Schluss, dass mich mein Nachdenken über die Schule zum Nachdenken über das Lernen und damit auch über Aufgaben und Prüfungen angestiftet hat und letztendlich zum Nachdenken über die Arbeit der Lehrpersonen führte.

Die Schule kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Und das tut sie auch. Zurück - das ist häufig die Blickrichtung. Die tragenden Säulen an den heutigen Schulen stammen aus einer völlig anderen Zeit und völlig anderen Welt. Es war die Zeit, in der mehr als zwei Drittel der erwerbstätigen Bevölkerung den Lebensunterhalt in der Landwirtschaft verdiente. Es war die Zeit, in der Napoleon auf St. Helena dahinschied, die erste Fotografie entstand und sich Postkutschen über den Gotthard mühten. In dieser Zeit hat Caspar Melchior Hirzel die nachfolgenden wichtigsten Merkmale der Volksschule des 19. Jahrhunderts beschrieben.

Bild aus: Müller, A. (2013), Mehr ausbrüten, weniger gackern. Bern: hep Verlag

Bild aus: Müller, A. (2013), Mehr ausbrüten, weniger gackern. Bern: hep Verlag

Wer die Liste liest, staunt: 19. Jahrhundert? Die Liste beschreibt doch mehr oder weniger die Merkmale der heutigen Schule. Noch immer werden die Schüler:innen fein säuberlich in Jahrgangsklassen unterteilt, noch immer grenzt der Stundenplan die Fächer voneinander ab, noch immer werden die Lehrpersonen vorrangig mit Blick auf ihr Fach ausgebildet, noch immer bildet die Stundenzahl die Bemessungsgrundlage für den Anstellungsgrad einer Lehrperson und noch immer sollen Prüfungen und Noten Auskunft über das Lernen und die Leistungen der Schüler:innen geben. Mit  anderen Worten: Die Schule bereitet heute die Lernenden auf das Leben im 21. Jahrhundert vor und stützt sich dabei auf Denkmuster aus einer Zeit, in der Alexander I. Zar von Russland war. All dies zeigt also: Im Gegensatz zur «realen Welt» hat sich im Bildungswesen substantiell wenig verändert.

Zwar wurden und werden unzählige Reformen lanciert, diese wirken aber im Wesentlichen wie eine Grippe: ein bisschen Husten, erhöhter Puls und rote Köpfe und danach geht es wieder zur Tagesordnung über und für zahlreiche Beteiligte gilt die Taktik «stillhalten und warten, bis es vorüber ist».

Das Problem hierbei ist: Unser Bildungssystem wird unterdessen von Menschen besucht, die grossmehrheitlich nicht mehr in der  Landwirtschaft tätig sind und  den Gotthard zwar immer noch passieren, meist aber durch den Basistunnel oder auf der Autobahnund ganz sicher nicht mehr in Postkutschen. Das würde doch aber bedeuten, dass auch in der Schule fundamentale Veränderungen anstehen müssten. Aber in der Öffentlichkeit (und WEGM ist hier nur eines von zahlreichen Beispielen) wird vornehmlich an der Oberfläche diskutiert und es sind Formalitäten und Strukturen, die für rote Köpfe sorgen. Hinzu kommt, dass im Hintergrund verschiedenste Gruppierungen von Menschen mit unterschiedlichsten Interessen dafür lobbyieren, dass bestimmte Themen hartnäckig entweder immer wieder oder gar nicht zur Sprache gebracht werden. Als Beispiel sei hier nur das Thema «Ferien» erwähnt. Für wen sind eigentlich die im regelmässigen Rhythmus eingebauten 13 oder 14 Wochen Ferien? Die Schulferien dienen der Erholung der Schüler:innen und helfen den Stress abzufedern. Klar! Aber nicht richtig! Die Schulferien sind zur gleichen Zeit eingeführt worden wie die Grundstrukturen des heutigen Schulwesens, also in einer Zeit, in der - wie bereits erwähnt - zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig waren. Damit die Kinder im Sommer und im Herbst bei der Ernte helfen konnten, wurden dort Schulunterbrüche eingeplant. Die anderen Ferien (Weihnachten und Ostern) waren eine Referenz an die Kirche. Wenn also die Ferien der Ernte dienten, weshalb haben wir sie heute denn noch? Ganz zu schweigen von der neuen Schwierigkeit, dass -insbesondere  im Volksschulbereich -  viele Eltern aufgrund der neuen Tätigkeitsmodelle in unserer Gesellschaft in dieser Zeit ein Betreuungsproblem für ihre Kinder erhalten. Diese Frage schon nur einmal ins Lehrer:innenzimmer zu stellen, führt zu deutlich stärkeren Symptomen als jede Grippe. Die Liste mit ähnlichen Fragen, liesse sich beliebig fortsetzen: Wie kam es zum gymnasialen Fächerkanon? Warum haben wir Lektionen, wieso Jahrgangsklassen usw. usf.

Fragt man Jugendliche, weshalb sie sich in der Schule anstrengen, erhält man oft zwei Antworten: Erstens: Um gute Noten zu erhalten. Zweitens: Um einen Abschluss zu erhalten. Diese «Um-zu-Mentalität» erinnert ein wenig an all jene, welche mit dem Joggen beginnen «um abzunehmen». Mit dieser Einstellung wird für viele das Joggen enden wie die gut gemeinten Neujahrsvorsätze. Nur wer im Laufen selber einen Sinn erkennt, wird auch an einem Regentag und bei Kälte die Laufschuhe schnüren und sich auf den Weg begeben. Und genauso verhält es sich auch mit dem Lernen in der Schule: Nur wer einen Sinn im Lernen erkennen kann, wird dies auch lustvoll und mit Erfolg tun. Es ist wie beim Abnehmen: Könnte man abnehmen ohne Sport, würde man darauf verzichten, und würde man die guten Noten kriegen ohne das, was als «Lernen» bezeichnet wird, würde man es glattweg überspringen (was heisst hier «würde», abschreiben, kopieren und Dinge nur tun, wenn es Noten dafür gibt, sind bereits gängige Formen). Sinnhaftigkeit, aber auch Verbindlichkeit, stellen zusammen mit Beziehungspflege in Form von Wertschätzung und positiver Unterstützung und dem Übernehmen von Verantwortung (anstelle der oftmals vorherrschenden Schuldzuweisung) die zentralen Punkte für ein erfolgreiches Lernen dar.

Was mich zum letzten Punkt meines einleitenden Gedankengangs bringt: den Lehrpersonen. Die Lehrperson «lehrt» - deshalb heisst sie ja so. Und das Ergebnis der Tätigkeit ist, dass die Schüler:innen lernen. Das mag zuweilen ja zutreffen, aber wie Andreas Müller es so schön beschreibt: «Menschen sind zwar lernfähig, aber nicht belehrbar, denn jeder  Mensch lernt selbst und ständig.» Lernen ist eben mehr als Geschichtszahlen büffeln oder Vokabeln pauken. Lernen geschieht immer dann, wenn man etwas kann, das man vorher  nicht konnte. Immer  dann, wenn man etwas weiss, das man vorher nicht wusste, hat  dazwischen  «Lernen»  stattgefunden. Egal, ob es sich dabei um Schuhe binden (also das «Wissen wie») handelt oder darum, dass C6H12O6 die Summenformel von Glukose ist («wissen was»). Menschen lernen also, was sie tun und wie sie etwas tun: Beziehungen herstellen, vernetzen, folgern, entwickeln, verdichten, auswählen, erklären, argumentieren, veranschaulichen, strukturieren - und vieles andere mehr.

Wenn man diesen Gedanken aufnimmt kommt man zum Ergebnis, dass es Lernen als Tätigkeit gar nicht gibt, sondern dass man, um Lernen zu beschreiben, immer andere Tätigkeiten dazu braucht. Das heisst  wiederum, dass jeder einzelne Lernende sein Lernen selber  gestaltet und dafür selber verantwortlich ist. Nicht die passive Aufnahme von Vorgedachtem ist dabei das Ziel,sondern die aktive Verarbeitung von Gedanken. Lehrpersonen sind also nicht «Stoffloswerder». Sie nehmen eine zentrale Rolle ein in der Funktion, was sie den Lernenden zu tun geben und wie sie die Schüler:innen aktivieren. Kurz: Schüler:innen lernen, indem sie etwas tun und die Lehrpersonen sind zuständig dafür, damit sie es tun und wie sie es tun.

Gestützt auf diese Überlegungen sollten wir uns meines Erachtens also zuerst um die Frage kümmern: Was wollen wir am Gymnasium? Wollen wir gute Leistungen und verknüpfen das mit guten Noten der Schüler:innen oder wollen wir kritisch reflektierende Jugendliche? Wollen wir grosse Mengen von Faktenwissen vermitteln, oder soll eigenverantwortliches und selbständiges exemplarisches Lernen stattfinden? Die Klärung dieser Fragen ist notwendig, denn je nach Zielsetzung die man hat, ist auch der Weg zu diesem Ziel ein anderer. Grundsätzlich würde das also bedeuten, dass wir zunächst die Funktion des Gymnasiums klären müssen und danach die für diese Funktion zweckmässigste Form des Gymnasiums festlegen. In der aktuellen Diskussion stelle ich aber fest, dass wir die Form (z.B. die Fachlogik, den Aufbau nach Lektionen oder die Jahrgangsklassen) als gegeben anschauen, und die Funktion fast zwanghaft an diese «DNA der Schule» anpassen. Oder um es etwas biologischer auszudrücken: Wir bringen mit grossem Aufwand eine Ananas in die Form einer Kartoffel, bereiten diese dann wie eine Kartoffel zu und stellen beim Essen enttäuscht fest, dass das Gericht nach Ananas schmeckt.

Was gilt es also zu tun? Die vielen «Reformen», die wir in den letzten Jahren erlebt haben, drehen sich vorwiegend um organisatorische und strukturelle Fragen. Eine zusätzliche Lektion hier, ein neues Konzept für eine Spezialwoche da, allenfalls einmal ein neues Fach und damit verbunden auch gleich die Frage, wie dieses dann in die Bestehensnormen eingefügt werden soll. Dies alles erscheint mir persönlich ein wenig, wie wenn man aktuell die Frage diskutieren würde, ob man zur Verbesserung der Fahrsicherheit bei den Postkutschen über den Gotthard Rückstrahler anbringen sollte. So erstaunt es mich denn auch nur wenig, dass die Energie in diesen «Reformen» nahezu wirkungslos verpufft, weil ein ganzheitlicher Ansatz fehlt. Und für diesen ganzheitlichen Ansatz ist es zentral, dass sich die Beteiligten (insbesondere die Lehrpersonen) darauf einlassen, wofür wiederum eine gewisse Stabilität seitens der Politik und der Bildungsverwaltung notwendig ist. Nur wenn man sicher ist, dass Veränderungen auch wirklich langfristig gelten und in eine einheitliche Richtung gehen, ist man auch bereit dafür, sich darauf einzulassen. In allen anderen Fällen ist das früher erwähnte «Grippe-Verhalten» mit Kopf einziehen und Abwarten, bis es vorbei ist, nur menschlich und verständlich.

An unserer Schule beschäftigen wir uns seit einiger Zeit mit der Frage, ob unsere Schüler:innen abschlussfähig (im Sinne von guten Noten an der Schlussprüfung), oder  anschlussfähig (im Sinne von erworbener Selbst- und Sozialkompetenz für anstehende Aufgaben) sein sollen. Sowohl als auch, ist hier die reflexartige Antwort eines jeden Schulangehörigen. Aber geht das überhaupt? Ja, es kann gehen, aber nur dann, wenn man bereit ist, den gewohnten Rahmen zu verlassen und sich ausserhalb der (scheinbar gegebenen) Denkmuster zu bewegen. Es geht also in einem ersten Schritt einmal darum, die Freiheiten, die im gegebenen System vorhanden sind, auch wirklich zu nutzen. Scheinbar vorhandene Zwänge, wie z.B. die Vorgabe der harmonisierten schriftlichen Maturitätsprüfungen, können die Reaktion auslösen, wir müssen alles gleich machen, sie kann aber auch dazu dienen, sich zu überlegen, was genau wir eigentlich am Ende überprüfen wollen, denn dies entscheiden alleine die prüfenden Fachschaften.

«S'isch immer so gsi ... » Für die Solothurner ist es mehr als nur  ein  Lied. Es ist eine Hymne, die seit mehr als 100 Jahren immer erklingt, wenn Solothurner etwas zu feiern haben. Vergessen wird dabei oft, dass der Text des Solothurnerlieds von einem Luzerner stammt! Dass wir es immer so gemacht haben, heisst erstens nicht, dass es sich in der veränderten Umwelt immer noch als gut und richtig herausstellt, und zweitens auch nicht, dass wir dies auch weiterhin so tun müssen.

«Aber ist denn alles schlecht, was wir bisher gemacht haben», ist eine der häufigsten Aussagen, mit der ich in Diskussionen mit den Lehrpersonen konfrontiert werde. Meine Lieblingsantwort darauf stützt sich gerne auf die Definition von Effizienz und Effektivität:«Die Dinge, die wir tun, machen wir richtig (respektive sogar sehr gut), es wäre aber an der Zeit zu fragen, ob wir die richtigen Dinge tun.».

All diese Fragen und Überlegungen haben im Sommer 2018 dazu geführt, an unserer Schule das Projekt «Lernen an der KSSO» zu lancieren. Im Zentrum stand dabei die Feststellung, dass Überlegungen zum Lernen nicht ein einzelnes Fach oder eine einzelne Abteilung, sondern die gesamte Schule betreffen. Lehren und Lernen soll dabei als ein Wechselspiel zwischen einer anleitenden und orientierenden Hilfestellung durch die Lehrenden und selbstgesteuerten Aktivitäten der Lernenden verstanden werden. Diese Grundlage soll zu einem Lernverständnis an unserer Schule führen, welches grob wie folgt zusammengefasst werden kann:

Lernen ist ein aktiver, selbstgesteuerter Prozess

Lernen bedeutet, sich aktiv mit Lerninhalten zu beschäftigen. Die Lernenden erhalten die Gelegenheit, sich mit Lerngegenständen handelnd auseinanderzusetzen und dieses Handeln zu reflektieren. Lehrende ermöglichen den Lernenden durch die Gestaltung einer entsprechenden Lernumgebung einen aktiven und selbstgesteuerten Umgang mit den Lerngegenständen. Ihnen kommt die Aufgabezu, so viel Selbststeuerung wie möglich zu initiieren und so wenig Fremdsteuerung wie nötig zu leisten. Dies weckt das Interesse und fördert die Offenheit, sich fragend mit Theorien auseinanderzusetzen, neue Erfahrungen zu sammeln und Erkenntnisse zu reflektieren.

Lernen ist ein konstruktiver Prozess

Insbesondere an der Sek P sollen Lernumgebungen so gestaltet werden, dass die Lernenden Phänomenen fragend begegnen, sich ihre eigenen Antworten konstruieren und das entsprechende Wissen aufbauen können.

Lernen ist ein kumulativer Prozess

Lernen ist ein Anknüpfen an Vorwissen und Erfahrungen. In den Jahrgangsklassen an unserer Schule führt dies unweigerlich zu unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Lehrenden nehmen auf diese Unterschiede Rücksicht und ermöglichen den Austausch der Erfahrungen und das Anknüpfen an individuellem Vorwissen.

Lernen ist ein zielorientierter Prozess

Bildungsgänge ermöglichen das Erreichen bestimmter Lernziele. Es ist die Aufgabe von Lehrenden, diese Ziele transparent zu kommunizieren und den Lernenden die Möglichkeit zu geben, sich daran zu messen. Ziele dienen der Planung, Durchführung und Überprüfung von Handlungen. Offene Lernumgebungen ermöglichen es den Lernenden, unter Berücksichtigung der generellen Zielsetzungen, auch individuelle Lernziele zu verfolgen.

Lernen ist die Transformation von Wissen in kompetentes Handeln

Wissen allein genügt nicht, um später kompetent zu handeln. Der Weg vom Wissen zum kompetenten Handeln ist weit. Das vermittelte Wissen leitet zunächst nur zum Handeln an. Mit geeigneten Übungen können dann praktische und kognitive Fertigkeiten erlangt werden. Dabei wird der Begriff Kompetenz an unserer Schule folgendermassen verstanden: Kompetenz ist handlungsorientiertes Wissen. Wissen, das Schülerinnen und Schüler auch ausserhalb des spezifischen Fachkontexts bei der Bewältigung von Aufgaben und Problemen (in anderen Fächern, im Studium, im Berufsalltag, lebenslang) anwenden können. Diese Kompetenzen sollen in sämtlichen Abteilungen der KSSO stufengerecht gefördert werden, wobei der Fokus an unserer Schule insbesondere auf diejenigen Kompetenzen gerichtet wird, welche für die Aufnahme eines Studiums besonders relevant sind. Dazu gehört gemäss den Rückmeldungen von Universitäten, Fachhochschulen aber auch Studierenden insbesondere die Fähigkeit zum selbstorganisierten Lernen. Dieses wird als eine zentrale Fähigkeit für die Bewältigung der schulischen und ausserschulischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angesehen.

Aus diesem Grund wird an der KSSO ein Gesamtkonzept zur Förderung und Unterstützung des begleiteten selbstorganisierten Lernens (BSL) entwickelt, welches sämtliche Bildungsgänge miteinbezieht. Gleichzeitig gilt es zu beachten, dass Überlegungen zum Lernen in der heutigen Zeit fast zwangsmässig einhergehen müssen mit Überlegungen zur Digitalisierung sowie zum Prüfen und Beurteilen. Beide Aspekte werden deshalb beim Projekt «Lernen an der KSSO» miteinbezogen und weiterentwickelt, sei dies in  Form von technischen Anpassungen (BYOD) oder aber der Weiterentwicklung der Prüfungskultur im Bereich des formativenPrüfens.

Angesichts der Entwicklungen in anderen Kantonen wird bei uns auf die Verwendung des Begriffs «SOL» verzichtet, da dieser oft mit speziellen, zeitlich begrenzten Projekten gleichgesetzt und manchmal sogar negativ konnotiert wird («Schule ohne Lehrperson»). Wie vorhin dargelegt, geht es aber in unserem konkreten Fall um eine nachhaltige und markante Veränderung des Lernverständnisses an unserer Schule.

An der KSSO werden demnach drei Formen des Lernens unterschieden: 

  1. Angeleitetes Lernen (AL)

Angeleitetes Lernen ist Lernen, welches von einer pädagogisch geschulten Person gelenkt wird. Als Beispiel dient hier der klassische Unterricht in all seinen Facetten.

  1. Begleitetes selbstorganisiertes Lernen (BSL)

Dieses beinhaltet Formen des Lernens, wo die Schülerinnen und Schüler ihr Lernen innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen selbstständig und selbstbestimmt planen, steuern und überprüfen. Beispiele hierfür sind das Arbeiten mit einem Wochenplan (Sek P) oder ein konkreter schriftlicher Auftrag für die begleitete, selbstständige Erarbeitung eines literarischen Textes.

  1. Eigenständiges Lernen (EL)

Hierbei handelt es sich um das Lernen «ausserhalb der Schule». In diesen Bereich fallen zum Beispiel Prüfungsvorbereitungen, Vokabeln lernen oder das Nachbereiten des Unterrichts.

Sämtliche Lernformen bewegen sich dabei innerhalb der gültigen Lehrpläne der entsprechenden Abteilung.

 «Im Zentrum unseres Wirkens steht die Entwicklung von mündigen, allgemein gebildeten und studierfähigen Persönlichkeiten.»

Gestützt auf diesen Leitsatz ergeben sich für das Projekt die folgenden Ziele:

  • Die Schüler:innen entwickeln bis zum Abschluss des jeweiligen Bildungsganges verstärkt die Kompetenzen für die selbstständige Organisation ihres Arbeits- und Lernprozesses und ihre interdisziplinäre Methodenkompetenz.
  • Die Lehrpersonen werden mit den notwendigen Kompetenzen (Methodenkompetenz, Selbstkompetenz) ausgerüstet, um begleitetes selbstorganisiertes Lernen gezielt und erfolgreich zu praktizieren.
  • Die Fachschaften integrieren das selbstorganisierte Lernen in die Curricula der jeweiligen Fächer.
  • Die Schulleitung fördert den gegenseitigen Austausch innerhalb des Hauses und innerhalb der Fachschaften.
  • Der Kanton stellt die für eine erfolgreiche Umsetzung erforderlichen Ressourcen zur Verfügung.

In der Praxis wird der BSL-Prozess in drei Phasen unterteilt: Vorbereitung, Durchführung und Evaluation. Die Schüler:innen sollen diesen Lernprozess im Verlauf ihrer Schulzeit an der KSSO wiederholt (spiralförmig) durchlaufen können. Mit zunehmender Erfahrung werden sie nicht nur fachliches Wissen erwerben, verarbeiten und speichern, sondern auch ihr eigenes Lernen verstehen und bewusst steuern. Sie übernehmen auf diese Weise zunehmend Verantwortung für ihr eigenes Lernen.

Dabei lernen sie, Strategien einzusetzen, um ihr eigenes Lernen verstehen und steuern zu können. Solche Lernstrategien sollen sie im Unterricht explizit erwerben und an konkreten Beispielen üben können. Sie entwickeln damit die Fähigkeit, für einen bestimmten Lerninhalt angemessene Lernstrategien auszuwählen, zu kombinieren, zu erweitern und schliesslich auf neue Situationen und Kontexte zu übertragen.

Ob BSL gelingt, hängt schulisch betrachtet im Wesentlichen von folgenden Faktoren ab:

  • Entscheidungsverantwortung

Begleitetes, selbstorganisiertes Lernen gibt den Schüler:innen eine hohe Entscheidungsverantwortung: Mehrmals im Verlauf einer BSL-Sequenz treffen sie organisatorische und inhaltliche Entscheidungen, mit denen sie ihr Lernen selbst steuern.

  • Lernbegleitung

Beim BSL kommt der Lernbegleitung eine wichtige Rolle zu: Die Begleitung sollte auf klaren Vereinbarungen fussen, die zu Beginn der entsprechenden Sequenz festgelegt werden. Sie formalisieren und strukturieren den Lern- und Arbeitsprozess. Die Begleitung wird individuell ausgestaltet. Die Lehrpersonen machen Angebote, die Schüler:innen sind dazu aufgefordert, diese bedarfsgerecht zu nutzen.

  • Reflexion (Metakognition)

Reflexion bzw. Metakognition ist ein zentrales Element des begleiteten, selbstorganisierten Lernens: Der Arbeits- und Lernprozess wird durch die Schüler:innen reflektiert und hinterfragt, dies in allen Phasen der BSL-Unterrichtseinheit und nicht erst in der Rückschau. Hierfür stellt die Weiterentwicklung der Prüfungskultur an unserer Schule eine wesentliche Gelingensbedingung dar.

 Genauso wichtig wie die schulischen Erfolgsfaktoren ist der «Faktor Mensch»:

 «Es änderet ja gliich nüüt!»

Sie kennen diese Aussage? Wir würden ja gerne etwas tun, wenn wir nur könnten und wenn es auch etwas bringen würde. Solche Glaubenssätze werden in dem Moment kritisch, wo wir sie generalisieren. Wenn man anfängt zu glauben, dass man nichts ändern kann - egal was man tut-, dann fühlt man sich hilf- und machtlos. Und dieses Gefühl führt auf lange Sicht zu einer grundlegend passiven Haltung gegenüber dem ganzen Leben. Jemand, der so von sich denkt, wird hoffnungslos und resigniert. Er unternimmt nichts mehr, um die eigene Lebenssituation zu verändern, und wird damit auch auf keinen Fall die eigene Komfortzone verlassen. Menschen in dieser «erlernten Hilflosigkeit» treffe ich überall an. Sie erklären mir dann, was die Politik, die Schule oder die Schulleitung alles falsch machen, wie früher doch alles besser war und wie schlecht es uns geht. Dieselben  Menschen, die diese negativen Äusserungen von sich geben, sagen Sachen wie: «Man sollte etwas tun». Aber: Wer bitte  ist denn «man»? Die anderen? Oder meinen sie, ich solle das für sie tun? Warum sagen sie nicht «ich»? Und  -  warum tun sie denn nichts ausser darüber zu reden, was «man» tun müsste?

Mit dem Projekt «Lernen an der KSSO» haben wir uns auf den  Weg gemacht. Ich bin überzeugt, dass sich uns damit die einmalige Gelegenheit bietet, unsere Schule neu zu denken und, ausgehend von den bisherigen Stärken, ein unverwechselbares, innovatives und zukunftsweisendes Profil für alle Bildungsgänge zu schaffen. Das Wichtigste dabei aber ist: Nicht «man» muss handeln, sondern wir. «Wer etwas erreichen will, hat Ziele. Wer etwas verhindern will, sucht Gründe»; so äusserte sich der Philosoph Richard David Precht in einem Interview.

Ich bin glücklich, in einem Umfeld tätig sein zu können, welches Änderungen als Chance erkennt und sich dabei bewusst ist: Hinfallen ist erlaubt, ein Rückschritt auch - Aufgeben nicht!

 

Solothurn im Februar 2022

Stefan Zumbrunn-Würsch

Literaturliste

  • Bräu, K., (2002), Grundlagen der Schulpädagogik (Band 42). Selbständiges Lernen in der gymnasialen Oberstufe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH
  • Brichzin, P., Kastl, P., Romeike, R. (2019), Agile Schule. Bern: hep Verlag
  • Burow, 0-A, Gallenkamp, Ch. (Hrsg.), (2017), Bildung 2030 - Sieben Trends, die die Schule revolutionieren. Weinheim und Basel: Beltz Verlag
  • Caduff, C., Pfiffner, M. (2016), Selbständiges Lernen - Kompetenzen für Schule, Studium und Beruf. Zürich: Orell Füssli Verlag
  • Dorgerloh, S., Wolf, K.D. (Hrsg.), (2020), Lehren und Lernen mit Tutorials und Erklärvideos. Weinheim und Basel: Beltz Verlag
  • Klein, S., Hughes, B. (2019), Loop-Approach. Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH
  • Müller, A. (2007), Lernen steckt an. Bern: hep Verlag
  • Müller, A. (2013), Mehr ausbrüten, weniger gackern. Bern: hep Verlag
  • Müller, A., Noirjean, R., Probst, M. (2015), Können die wo fertig sind früher gehen? Bern: hep Verlag
  • Riegel, E. (2004), Schule kann gelingen! Wie unsere Kinder wirklich fürs Leben lernen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag GmbH
  • Zylka, J. (Hrsg), (2021), Flip Your School. Weinheim und Basel: Beltz Verlag