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Nachhaltig zur vertieften Gesellschaftsreife

Sarah Eberz, Sandra Lang, Kai Niebert

Biographisches

Sarah Eberz ist Doktorandin am Lehrstuhl für Didaktik der Naturwissenschaften und der Nachhaltigkeit an der Universität Zürich. Sie hat Biologie, Geographie, Erziehungswissenschaften für das Lehramt an Gymnasien an der Universität Köln studiert und war die letzten 4 Jahre im Lehrberuf an einer Sekundarschule tätig. Ihre aktuelle Forschung beschäftigt sich mit dem Beitrag der Naturwissenschaften zur vertieften Gesellschaftsreife.

Dr. Sandra Lang ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Naturwissenschaften und der Nachhaltigkeit an der Universität Zürich. Sie studierte Soziologie und Judaistik und promovierte in Science and Technology Studies. Ihre Forschungsinteressen liegen im Grenzbereich von Soziologie und Geschichte der Naturwissenschaften und der Medizin sowie Gender Studies und Environmental Humanities.

Prof. Dr. Kai Niebert ist ausgebildeter Gymnasiallehrer für Biologie, Chemie und Physik und heute Professor für Didaktik der Naturwissenschaften und der Nachhaltigkeit an der Universität Zürich. Kai durfte in verschiedenen Kommissionen die deutsche Bundesregierung beraten und versucht täglich seine Gesellschaftsreife zu vertiefen.

Einleitung: Nachhaltigkeit wird in der Schule oftmals auf der Ebene individueller Konsumentscheidungen vermittelt. Dabei wiegen beispielsweise private, situative Mobilitätsentscheidungen global betrachtet deutlich geringer als wenn sich etwa ein grosser Konzern dafür entscheidet, künftig die Flugreisen seiner Mitarbeitenden zu reduzieren. Ob flächendeckende Implementierung erneuerbarer Energien, Verkehrswende oder Senkung chemischer Grenzwerte in der Landwirtschaft: die wirklich wirksamen Nachhaltigkeitsentscheidungen werden auf den Teppichetagen getroffen. Die Frage, die sich für die schulische Bildung dabei stellt, ist daher, wie wir Maturand*innen als kommende Verantwortungsträger*innen darauf vorbereiten können, für kleinere ökologische Fussstapfen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu sorgen.

Mit dem gymnasialen Ziel der vertieften Gesellschaftsreife sollen Maturand*innen genau auf diese anspruchsvollen Aufgaben vorbereitet werden, um verantwortungsvoll Entscheidungen in und für die gesamte Gesellschaft treffen zu können (EDK, 1995; EDK & WBF, 2019). Das Konzept der vertieften Gesellschaftsreife ist bislang allerdings noch vage formuliert und es fehlt eine empirische Datengrundlage zum Wissen und Können, das die Lernenden erwerben müssen, um den Anforderungen der Gesellschaftsreife gerecht zu werden. Diese Unklarheit über die Bedeutung des Begriffs und die fehlende Zuordnung zu den Unterrichtsfächern stellt ein Problem bei der Weiterentwicklung, Förderung und Evaluation der vertieften Gesellschaftsreife dar.

Von der empirischen Unterfütterung dieses Konzepts versprechen sich die Autor*innen ein spezifisches, auf die Schweizer Bildungslandschaft abgestimmtes Werkzeug um Maturand*innen auf komplexe nachhaltigkeitsrelevante Entscheidungssituationen vorzubereiten.

In den aktuellen bildungspolitischen Debatten rund um die Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität wird der vertieften Gesellschaftsreife eine zentrale Bedeutung zugesprochen (EDK & WBF, 2019). Besonders im Hinblick auf gesellschaftliche Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft, wie Klimawandel, Covid-19-Pandemie, Energiewende und Biodiversitätsverlust werden kritisch denkende Bürger*innen benötigt, die mit komplexen Themen verantwortungsvoll umgehen können. Dafür müssen Lernende dazu befähigt werden, gesellschaftsbezogene Probleme reflektiert zu bewerten und an Lösungsmöglichkeiten im Sinne einer nachhaltigen Gestaltung der Zukunft arbeiten zu können. Die schulische Bildung nimmt beim Aufbau dieser Kompetenzen eine zentrale Rolle ein. Der Begriff der vertieften Gesellschaftsreife wurde erstmals im Zuge der gesamtschweizerischen Evaluation der gymnasialen Maturität (EVAMAR II) von Eberle ausführlicher beschrieben (Eberle et al., 2008).

Im Barcamp «Nachhaltig zur vertieften Gesellschaftsreife» haben wir uns mit Expert*innen aus den Bereichen Schule und Hochschule ausgetauscht und über die Frage diskutiert, inwiefern auf die vertiefte Gesellschaftsreife aktuell im Unterricht bereits hingearbeitet wird und wie dies in Zukunft aussehen könnte. Ziel war dabei eine stärkere Sensibilisierung für die Ausrichtung des Unterrichts auf die vertiefte Gesellschaftsreife, um auf die Etablierung derselben in realen Lehr-Lernumgebungen hinzuarbeiten. Die Lehrpersonen merkten insbesondere an, dass eine erfolgreiche Implementierung der vertieften Gesellschaftsreife vor allem eine curriculare Veränderung erfordere hin zu problemorientiertem Unterricht, der aktuellen Herausforderungen entlang geplant wird.

Beispielhaft werden in diesem Beitrag Bezüge zu naturwissenschaftsdidaktischen Konzepten sowie zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) aufgezeigt, die helfen können, die vertiefte Gesellschaftsreife besser einordnen und im Unterricht adressieren zu können. Wir haben uns dabei auf die nachhaltigkeitsbezogene Naturwissenschaftsdidaktik fokussiert, da viele der genannten Nachhaltigkeitsherausforderungen im Kern naturwissenschaftlich geprägt sind und eine nachhaltige Entwicklung erfordern.

Die vertiefte Gesellschaftsreife im naturwissenschaftlichen Unterricht

Die Autor*innen stützen das laufende empirische Forschungsprojekt zur Ergründung der bildungswissenschaftlichen Dimensionen der vertieften Gesellschaftsreife auf die Konzepte der Socioscientic Issues (SSI), der Scientific Literacy sowie der Bewertungskompetenz, die in der Folge ausgeführt werden:

In den vergangenen Jahren wurden in der Naturwissenschaftsdidaktik verschiedene Ansätze entwickelt, die sich stärker an gesellschaftlichen Fragen orientieren. Ein verbreiteter Ansatz, um im naturwissenschaftlichen Unterricht komplexe gesellschaftliche Herausforderungen zu adressieren, ist die Einbindung von Socioscientic Issues (SSI) in den Unterricht (Zeidler, 2014). Entlang von Themen, wie z.B. Klimawandel, Ressourcenübernutzung und nachhaltige Landwirtschaft, die an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Naturwissenschaft liegen, soll die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaft verstanden und die Lücke zwischen schulisch erlerntem Wissen und Alltagswissen überbrückt werden (Åkerblom & Lindahl, 2017). Dafür ist eine naturwissenschaftliche Grundbildung im Sinne einer Scientific Literacy wichtig. Diese hilft das erlernte naturwissenschaftliche Wissen auf komplexe gesellschaftsbezogene Probleme anzuwenden, diese einzuordnen und verantwortungsvolle Entscheidungen für die gesamte Gesellschaft zu treffen. Im deutschsprachigen Raum werden gesellschaftspolitisch relevante Fragestellungen im naturwissenschaftlichen Unterricht oft im Zuge der Förderung von Bewertungskompetenz adressiert. Diese berücksichtigt, dass im Rahmen von Entscheidungsprozessen sowohl die individuellen als auch gesellschaftlichen und kollektiven Werthaltungen und Ziele einbezogen werden sollen, um auf Basis der Reflexion dieser, informierte Lösungen zu verfolgen und Entscheidungen zu treffen (Eggert & Bögeholz, 2006). Der Bereich der Bewertungskompetenz bietet für den Umgang mit komplexen Herausforderungen aus den Naturwissenschaftsdidaktiken heraus wertvolle Anknüpfungspunkte.

Die vertiefte Gesellschaftsreife und die Bildung für nachhaltige Entwicklung

Um nachhaltig zur vertieften Gesellschaftsreife zu gelangen, ist eine aktive und selbstbestimmte Gestaltung der Gegenwart und Zukunft wichtig. Die Schweizerische Stiftung éducation21 adressiert die gesellschaftliche Bewältigung von Problemen nicht-nachhaltiger Entwicklung und «die Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft und für die Umwelt. Schüler*innen bauen interdisziplinäres Wissen über die aktuellen globalen Herausforderungen auf und erhalten das Rüstzeug, individuelle und kollektive Handlungsspielräume zu erkennen, wünschenswerte Entwicklungen für die Zukunft zu entwerfen und Problemstellungen zu bearbeiten. Indem sie sich aktiv und konstruktiv in gesellschaftliche Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse einbringen, erfahren sie, dass sie gemeinsam mit anderen eine zukunftsfähige Entwicklung mitgestalten können» (éducation21, 2021). Sekundarschulen und speziell Gymnasien sind im Sinne der Förderung der vertieften Gesellschaftsreife angehalten, zur sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft beizutragen (UNESCO, 2014). In diesem Sinne rückt besonders die gesellschaftlich-politische Partizipationsfähigkeit in den Vordergrund. Somit wird das Gestalten von Gesellschaft die zentrale Anforderung an eine zeitgemässe Bildung, die einen Beitrag zur Lösung von anspruchsvollen Aufgaben leisten kann. 

Fazit: Dieser Beitrag hat aufgezeigt, dass Unterricht entlang aktueller und zukünftiger Herausforderungen geplant und durchgeführt werden sollte, um die erforderlichen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen zu fördern, die für anspruchsvolle Entscheidungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung und auf dem Weg zu einer vertieften Gesellschaftsreife wichtig sind. Die vertiefte Gesellschaftreife kann vor dem Hintergrund dieser konzeptionellen Operationalisierung als vielversprechendes Werkzeug zur Implementierung von Nachhaltigkeitsdenken und -handeln im gymnasialen Naturwissenschaftsunterricht gelten. Der Einbezug von Lehrer*innenperspektiven und anderer Fachpersonen der Gymnasialbildung, wie er im Barcamp erfolgte, leistet einen wertvollen Beitrag zur konzeptionellen Stärkung und Verankerung der vertieften Gesellschaftsreife, die derzeit noch auf wackeligen Beinen steht.

 

Referenzen:

Åkerblom, D. & Lindahl, M. (2017). Authenticity and the relevance of discourse and figured worlds in secondary students’ discussions of socioscientific issues. Teaching and Teacher Education 65 (7), 205–214.

Eberle, F., Gehrer, K., Jaggi, B., Kottonau, J., Oepke, M., & Pflüger, M. (2008). Evaluation der Maturitätsreform 1995. Schlussbericht zur Phase II.  Online unter: https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/14283/2/Schlussber_Eval_95_Evamar_II.pdf (02.02.2022).

EDK. (1995). Reglement über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (Maturitäts Anerkennungsregelemet MAR) von 15. Februar 1995.  http://www2.zhlex.zh.ch/appl/zhlex_r.nsf/WebView/C62A487C1FAD7691C1256E1D00302F08/$File/410.5_16.1.95_43.pdf (02.02.2022).

EDK, & WBF. (2019). Auslegeordnung zur Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität-Bericht der Steuergruppe im Rahmen des Mandats von EDK und WBF vom 6. September 2018 „Weiterentwicklung des gymnasialen Maturität: Mandat für eine Auslegeordnung zu den Referenztexten“.  Online unter: https://edudoc.ch/record/203996?ln=de (02.02.2022).

éducation21. (2021). BNE Verständnis von éducation21. Online unter: https://www.education21.ch/de/bne-verstaendnis (02.02.2022).

Eggert, S. & Bögeholz, S. (2006). Göttinger Modell der Bewertungskompetenz – Teilkompetenz „Bewerten, Entscheiden und Reflektieren“ für Gestaltungsaufgaben Nachhaltiger Entwicklung. Zeitschrift für Didaktik der Naturwissenschaften, 12 (1), 177–196.

UNESCO (2014). Roadmap zur Umsetzung des Weltaktionsprogramms “Bildung für nachhaltige Entwicklung”, Deutsche UNESCO Kommission e.V.: Bonn. Online unter: https://www.bmbf.de/files/2015_Roadmap_deutsch.pdf (02.02.2022).

Zeidler, D. L. (2014). Socioscientific issues as a curriculum emphasis. Theory, research and practice. In N. G. Ledermann & S. K. Abell (Hrsg.), Handbook of Research on Science Education (S. 697–726). Mahwah: Focal Press.