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Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» – Chancen und Risiken

Lucius Hartmann

Biographisches

Dr. Lucius Hartmann unterrichtet seit mehr als 20 Jahren an der Kantonsschule Zürcher Oberland Griechisch, Latein und Mathematik. Er war 8 Jahre Präsident des Schweizerischen Altphilologenverbands, ist seit 2014 Vorstandsmitglied des VSG und seit 2019 dessen Präsident. Er ist Mitglied im Büro der Schweizerischen Maturitätskommission, Co-Präsident der Kommission Gymnasium–Universität und seit Beginn Mitglied der HSGYM-Kerngruppe Alte Sprachen.

1. Kontext

Auslöser für das aktuell laufende Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» sind an verschiedenen Stellen zu verorten. Zunächst hat sich das Umfeld des Gymnasiums in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten seit der Entstehung des heute noch gültigen MAR von 1995 stark verändert: In der Volksschule wurden die sprachregionalen kompetenzorientierten Lehrpläne (Lehrplan 21, plan d’études romand, piano di studio) eingeführt, an den Hochschulen erfolgte die Gründung der Fachhochschulen und der pädagogischen Hochschulen sowie die Bologna-Reform der universitären Hochschulen mit weitreichenden Folgen für die Struktur und die Inhalte der Studienprogramme. Weiter wurde von verschiedener Seite vermehrt auf den möglichen Reformbedarf des Gymnasiums hingewiesen. Bereits die Studie EVAMAR II von 2008 hat trotz eines insgesamt guten Zeugnisses für die gymnasiale Bildung auf einzelne Problemfelder hingewiesen (so etwa Mängel beim Erwerb der basalen fachlichen Kompetenzen für die Allgemeine Studierfähigkeit BfKfAS). 2012 sprach sich der damalige Bundesrat Schneider-Ammann in einem Interview für «weniger, aber dafür bessere Maturanden» aus (NZZaS, 28.10.2012). 2017 empfahl Peter Bonati in seiner Untersuchung «Das Gymnasium im Spiegel seiner Lehrpläne» die Erstellung eines verbindlicheren Rahmenlehrplans. 2018 erstellte eine von der Schweizerischen Maturitätskommission (SMK) im Zusammenhang mit der Einführung des obligatorischen Fachs Informatik einberufene Arbeitsgruppe eine Liste von Empfehlungen mit Anpassungen des MAR, und ebenfalls 2018 setzte sich die Konferenz Schweizerischer Gymnasialrektorinnen und -rektoren (KSGR) unter dem Schlagwort «Mehr Kern, mehr Wahl» für eine Reform des MAR ein. Im gleichen Jahr stellte sich auch der Verein Schweizerischer Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer (VSG) hinter die Forderung nach einer Überarbeitung des Rahmenlehrplans.

2. Projektinhalte und -ziele

Im Auftrag von EDK und Bund analysierte daher eine Steuergruppe mit Vertreter*innen der verschiedenen Akteure (Bund, Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren EDK, swissuniversities, SMK, Schweizerische Mittelschulämterkonferenz SMAK, KSGR, VSG) die Situation und publizierte im Frühling 2019 ihren Bericht mit möglichen Handlungsfeldern. Dieser bescheinigte dem Gymnasium erneut eine insgesamt gute Qualität, wies aber einen klaren Reformbedarf beim Rahmenlehrplan und die Notwendigkeit punktueller Anpassungen beim MAR aus. Bund und EDK entschieden daher im Herbst 2019, die gymnasiale Maturität weiterzuentwickeln, wobei die Bildungsziele gemäss MAR Artikel 5 unverändert belassen werden sollten.

In diese Weiterentwicklung sollten auch die folgenden Punkte einfliessen:

  • Sprachenstrategie Sekundarstufe II der EDK von 2013
  • Empfehlungen zur langfristigen Sicherung des prüfungsfreien Hochschulzugangs der EDK von 2016 mit ihren vier Teilprojekten (Teilprojekt 1: Basale fachliche Kompetenzen für Allgemeine Studierfähigkeit, Teilprojekt 2: Gemeinsames Prüfen, Teilprojekt 3: Optimierung des Übergangs Gymnasium–Universität, Teilprojekt 4: Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung)
  • Commitment EDK–swissuniversities zur Optimierung des Übergangs Gymnasium–Universität von 2019
  • Strategie Austausch und Mobilität von Bund und EDK von 2017
  • Thesen der Expertengruppe zur Politischen Bildung auf Sekundarstufe II im Auftrag des SBFI von 2019

Ziel des Projekts ist nicht nur die Berücksichtigung dieser Punkte und eine Anpassung der Rechtsgrundlagen aufgrund der Änderungen an der Volksschule und an den Hochschulen, sondern auch eine Verbesserung der Governance durch die Klärung der Rolle der SMK und eine höhere Vergleichbarkeit der Maturitätsabschlüsse. Letztere soll unter anderem durch eine verbindliche Definition der Mindestdauer (vier statt wie bisher drei Jahre) und durch eine mittlere Regelungsdichte im Rahmenlehrplan erreicht werden.

3. Mögliche Spannungsfelder 

Die Diskussionen in den verschiedenen Arbeitsgruppen und im Rahmen der internen Konsultation im Frühling bzw. Sommer 2021 haben die grundsätzlichen Spannungsfelder und das Dilemma des Gymnasiums deutlich hervortreten lassen.

 

Mehr Breite, mehr Wahl – Gleich viel Zeit

Die Forderung nach einer «breit gefächerten und ausgewogenen Bildung» (MAR Art. 5, Absatz 1) lässt sich nur durch einen Fächerkatalog erfüllen, der gegenüber heute eher noch umfangreicher werden müsste, damit die Maturandinnen und Maturanden die aktuellen und künftigen Herausforderungen erfolgreich bewältigen können. Die obligatorischen Fächer Informatik sowie Wirtschaft und Recht sind für die Erlangung der persönlichen Reife nicht weniger wichtig als die bisherigen Grundlagenfächer, die in Artikel 5 ebenfalls geforderte «Sensibilität in ethischen und musischen Belangen» und das im Bericht der Steuergruppe angeregte Gefäss für eine Theorie des Wissens lassen sich durch die bestehenden Fächer Philosophie bzw. Bildnerisches Gestalten und Musik abdecken, die allerdings erst in einer Mehrheit und nicht in allen Kantonen Pflichtfächer für alle Schüler*innen sind. Doch mehr Breite bei gleich bleibenden Zeitressourcen ist nur möglich durch Verzicht auf bestehende Fachinhalte. Zugleich gilt es zu vermeiden, dass die Stundentafeln noch stärker fragmentiert werden. Immerhin hat man heute schon Kantone, welche diese Gratwanderung offensichtlich gut bewältigen können.

Die vorliegende Problematik erfährt noch dadurch eine Verschärfung, dass eine Erhöhung der Wahlmöglichkeiten gefordert wird, etwa durch die Einführung von Vertiefungsfächern (vgl. den Bericht der Expertengruppe vom März 2021). Zudem stellt sich zurecht die Frage, ob der Katalog der Schwerpunktfächer und ihrer Kombinationen noch zeitgemäss ist. Verschiedene Fachverbände des VSG haben daher bereits Vorschläge für neue Fächer ausgearbeitet. Auch das Ergänzungsfach könnte durch eine Erweiterung der möglichen Fächer und insbesondere durch die Möglichkeit zu interdisziplinären Angeboten eine Aufwertung erfahren. Der Wahlpflichtbereich insgesamt ermöglicht es dem Gymnasium, Innovationen voranzutreiben, sich rasch und flexibel neuen Entwicklungen anzupassen oder auf kantonale Besonderheiten und Traditionen Rücksicht zu nehmen. Es wäre daher ein falsches Zeichen, hier beim Status quo zu verharren oder die notwendige Flexibilität für individuelle Anpassungen durch einen allzu rigiden Rahmenlehrplan zu beschneiden.

  

Autonomie der Kantone – Mehr Vergleichbarkeit

Das MAR soll die Gleichwertigkeit der Maturitätszeugnisse sicherstellen, die an den kantonal geführten und verantworteten Gymnasien erworben werden. Angesichts der teilweise doch beträchtlichen Unterschiede, die sich beispielsweise im Fächerangebot, in den Lektionenzahlen pro Fach, in der Dauer des Gymnasiums, in der gesamten Unterrichtszeit oder in den Prüfungsfächern manifestieren, macht eine Forderung nach einer höheren Vergleichbarkeit durchaus Sinn. Allerdings darf dadurch der im MAR explizit vorgesehene Spielraum der Kantone durch die neuen Vorgaben nicht übermässig beschnitten werden. Die Kantone benötigen auch weiterhin eine genügend hohe Autonomie, um ihre spezifischen Bedürfnisse bei der Ausgestaltung «ihres» Gymnasiums berücksichtigen und den gymnasialen Bildungsgang optimal in ihr individuelles Bildungssystem integrieren zu können. Daher sollten nur dort restriktivere Anpassungen am bestehenden MAR vorgenommen werden, wo man von klar spürbaren Effekten ausgehen kann und wo die Chancengerechtigkeit erhöht wird. Dies sind beispielsweise die Erhöhung der Mindestdauer des Gymnasiums, eine verbindlichere Fassung des Fächerangebots im Grundlagenbereich und die neue Fassung des RLP mit einer mittleren Regelungsdichte. Umgekehrt sollte im Pflichtwahlbereich eher eine grössere Offenheit als heute angestrebt werden.

  

Rahmenlehrplan 

Der neue Rahmenlehrplan soll wenigstens im Grundlagenbereich klar verbindlicher werden als die Version von 1994, indem für die Grundlagenfächer eine mittlere Regelungsdichte angestrebt wird, während in den Schwerpunktfächern und insbesondere in den Ergänzungsfächern  weniger restriktivere Vorgaben gemacht werden und der Handlungsspielraum gross genug bleiben sollen. Beim ersten Entwurf, der anlässlich der internen Konsultation vorlag, zeigte sich jedoch, wie leider aufgrund der Anlage des Projekts etwas zu befürchten war, eine Überfrachtung insbesondere der Fachrahmenlehrpläne. Hier wird es notwendig sein, unter Beizug der Rückmeldungen die Vorschläge zielgerichtet zu reduzieren, die richtigen Prioritäten zu setzen und stärker exemplarisch zu arbeiten. Bei der Überarbeitung gilt es unbedingt zu vermeiden, dass man im Bemühen um Beibehaltung einer grossen Breite auch innerhalb eines einzelnen Fachs in eine Oberflächlichkeit abgleitet und die Schüler*innen am Schluss gleichsam «von allem nichts lernen».

 

Beschleunigung der Reformzyklen – Beteiligung der Basis

Die Entwicklung im Bildungssystem hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten parallel zur gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung stark beschleunigt. Daher ist davon auszugehen, dass die Reformzyklen künftig kürzer werden und das Gymnasium noch rascher als bisher auf Änderungen reagieren muss. Bei Projekten wie WEGM ist die Beteiligung der und die Akzeptanz bei der Basis – den Lehrpersonen und Schulleitungen – von hoher Relevanz. Gegen deren Widerstand lassen sich neue Vorschläge nur mit grosser Mühe, wenn überhaupt, umsetzen. Den Goodwill und die Unterstützung durch die Basis darf man auf keinen Fall aufs Spiel setzen. Daher braucht es bei jeder Reform auch eine genügend lange Phase der Konsolidierung, um die Änderungen durch MAR und RLP auch wirklich im Unterrichtsalltag ankommen zu lassen. Es ist deshalb unbedingt zu vermeiden, dass es beim Gymnasium zu einer Dauerbaustelle kommt und die Reformbestrebungen dadurch unnötig an Glaubwürdigkeit verlieren. Stattdessen sollte wie bei der Reform von 1995 durch einen genügend grossen Spielraum für die Umsetzung sichergestellt werden, dass das Gymnasium rasch und flexibel auf Änderungen und neue Entwicklungen reagieren kann. 

4. Fazit

Das Projekt WEGM bewegt sich also offensichtlich in einer Reihe von Spannungsfeldern. Bei beschränkten Ressourcen und unterschiedlichen Bedürfnissen lassen sich diese nicht in jedem Fall auflösen. Umso mehr braucht es eine gemeinsame Suche nach Lösungen und eine Kompromissbereitschaft von allen Seiten. Anzustreben ist eine Art goldene Mitte in aristotelischer Tradition, um welche die einzelnen Federn, um beim physikalischen Bild der Spannung zu bleiben, in einem klar definierten und begrenzten Rahmen auch noch leicht schwingen können.

Mehr Breite, mehr Fächer, mehr Wahl, mehr Gleichwertigkeit – wie kann das künftige Gymnasium diesen Ansprüchen gerecht werden, ohne sich in Oberflächlichkeit zu verlieren und ohne die Schüler*innen zu überfordern? Indem es sich noch mehr als bisher aufs Wesentliche konzentriert, indem es, wo möglich, noch stärker exemplarisch vorgeht, indem es weitere Vertiefungsmöglichkeiten anbietet, indem es seinen Spielraum geschickt ausnutzt, indem durch die föderalistische Lösung weiterhin ein Wettbewerb guter Ideen und Innovationen gefördert wird.

Alles anders? Das Gymnasium entwickelt sich stets weiter, unabhängig davon, wie stark sich die äusseren Rahmenbedingungen ändern. Kantone, Schulleitungen, Lehrpersonen und auch Schülerinnen und Schüler sorgen dafür, dass sich die Institution fortwährend weiterentwickelt, solange der dafür notwendige Spielraum zugestanden und ausgenutzt wird. Daher gilt es, bestehende Trends aufzugreifen und mit dem MAR und noch viel stärker mit dem neuen Rahmenlehrplan wichtige Anstösse zu geben, Bewährtes weiterzuführen und Neuem Platz zu lassen. Die Involvierung aller Beteiligten gleich zu Beginn des Prozesses und das Verfahren der internen Konsultation zur Einholung des umfangreichen Praxiswissens dürften massgeblich dazu beitragen, dass das Projekt erfolgreich umgesetzt werden kann und das Gymnasium optimal auf die Herausforderungen der kommenden Jahre vorbereitet.

5. Auswirkungen auf das Projekt «Gymnasium 2022»

Gesamtschweizerische Projekte können kantonale Projekte aufnehmen oder vorbereiten. Dies gilt auch für das Projekt WEGM und das kantonale Projekt «Gymnasium 2022». Es macht wenig Sinn, auf kantonaler Ebene ein Projekt voranzutreiben, wenn sich gleichzeitig die übergeordneten Rechtsgrundlagen ändern. Dies gilt insbesondere für den RLP mit seiner angestrebten mittleren Regelungsdichte, dessen Auswirkungen auf den Unterricht nicht unterschätzt werden dürfen. Die Integration neuer Inhalte (z.B. Politische Bildung oder Bildung für Nachhaltige Entwickelung) und der BfKfAS sowie die stärkere Betonung überfachlicher Kompetenzen und der Interdisziplinarität dürften zu einer recht umfangreichen Anpassung der bisherigen Schullehrpläne, Stoffpläne und Fachschaftsrichtlinien führen. Daher ist der Entscheid der Bildungsdirektion zu begrüssen, nur diejenigen Teile des Projekts umzusetzen, welche unabhängig von WEGM sind.